Der Verdacht by Dürrenmatt Friedrich

Der Verdacht by Dürrenmatt Friedrich

Author:Dürrenmatt, Friedrich [Friedrich, Dürrenmatt,]
Language: deu
Format: epub
Published: 2013-09-18T16:00:00+00:00


Der Zwerg

Hungertobels Wagen hielt in einem Park, dessen Tannen unmerklich in den Wald übergehen mußten, wie Bärlach vermutete; denn er konnte den Waldrand, der den Horizont abschloß, nur ahnen. Hier oben schneite es nun in großen, reinen Flocken; durch den fallenden Schnee erblickte der Alte undeutlich die Front des langgestreckten Spitals. Das hellerleuchtete Portal, in dessen Nähe der Wagen stand, war tief in die Front eingelassen und von zwei Fenstern flankiert, die kunstvoll vergittert waren und von denen aus man das Portal überwachen konnte, wie der Kommissär dachte. Hungertobel steckte schweigend eine ‹Little-Rose› in Brand, verließ den Wagen und verschwand im Eingang. Der Alte war allein. Er beugte sich vor und überschaute das Gebäude, so weit dies in der Dunkelheit möglich war. «Der Sonnenstein», dachte er, «die Wirklichkeit.» Der Schnee fiel dichter, kein einziges der vielen Fenster war erleuchtet, nur manchmal flackerte durch die fallenden Massen ein undeutlicher Schein; wie tot lag der weiße, gläserne, modern konstruierte Komplex vor ihm. Der Alte wurde unruhig, Hungertobel schien nicht zurückkehren zu wollen; er schaute auf die Uhr, es mußte jedoch kaum eine Minute vergangen sein. «Ich bin nervös», dachte er und lehnte sich zurück, in der Absicht, die Augen zu schließen.

Da fiel Bärlachs Blick durch die Wagenscheibe, an der außen der geschmolzene Schnee in breiten Spuren hinunterlief, auf eine Gestalt, die im Gitter des Fensters hing, das sich links vom Spitaleingang befand. Zuerst glaubte er einen Affen zu sehen, dann aber erkannte er erstaunt, daß es ein Zwerg war, einer, wie man ihn bisweilen im Zirkus zur Belustigung des Publikums antrifft. Die kleinen Hände und Füße waren nackt und umklammerten nach Affenart das Gitter, während sich der riesenhafte Schädel dem Kommissär zuwandte. Es war ein zusammengeschrumpftes, uraltes Gesicht von einer bestialischen Häßlichkeit, mit tiefen Rissen und Falten, entwürdigt von der Natur selbst, das den Alten mit großen, dunklen Augen anglotzte, unbeweglich wie ein verwitterter, moosüberwachsener Stein. Der Kommissär beugte sich vor und preßte sein Gesicht gegen die nasse Scheibe, um besser, genauer zu sehen, doch schon war der Zwerg verschwunden, mit einem katzenhaften Sprung rückwärts ins Zimmer, wie es schien; das Fenster war leer und dunkel. Nun kam Hungertobel und hinter ihm zwei Schwestern, doppelt weiß in diesem unaufhörlichen Schneetreiben. Der Arzt öffnete den Wagen und erschrak, als er Bärlachs bleiches Gesicht bemerkte.

Was mit ihm los sei, flüsterte er.

Nichts, gab der Alte zur Antwort. Er müsse sich nur an dieses moderne Gebäude gewöhnen. Die Wirklichkeit sei doch immer wieder ein wenig anders, als man so glaube.

Hungertobel spürte, daß der Alte etwas verschwieg, und blickte mißtrauisch nach ihm. «Nun», entgegnete er, leise wie vorhin, «es wäre soweit.»

Ob er Emmenberger gesehen habe, flüsterte der Kommissär.

Er habe mit ihm gesprochen, berichtete Hungertobel. «Es ist kein Zweifel möglich, Hans, daß er es ist. Ich habe mich in Ascona nicht getäuscht.»

Die beiden schwiegen. Draußen warteten, schon etwas ungeduldig, die Schwestern.

«Wir jagen einem Phantom nach», dachte Hungertobel. «Emmenberger ist ein harmloser Arzt, und dieses Spital ist eines wie andere auch, nur kostspieliger.»

Hinten im Wagen, in dem nun fast undurchdringlichen Schatten saß der Kommissär und wußte genau, was Hungertobel dachte.



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